Eine

Geschichte

Eine beinahe tragische Geschichte eines zarten Kobolds

Es war einmal ein zarter, kleiner Kobold. Er war ein sehr glücklicher Kobold, klug und neugierig, und er kannte die Geheimnisse des Lebens. Er wusste zum Beispiel, dass Liebe von entscheidender Bedeutung ist, dass Liebe harte Arbeit bedeutet, dass Liebe die einzig wahre Lebensmöglichkeit darstellt. Er wusste, dass er magische Dinge vollbringen konnte und dass diese einzigartige Art seiner Magie Kreativität genannt wurde. Der kleine Kobold wusste genau, dass es solange keine Gewalt geben würde, wie er wirklich kreativ war. Und er kannte das größte Geheimnis von allen – dass er etwas war und nicht ein Nichts. Er wusste, dass er existierte und dass das Sein alles bedeutete. Das war das Geheimnis des „ICH BIN“. Der Schöpfer aller Kobolde war der Grosse ICH BIN und wird es immer sein. Niemand wusste, wie oder warum das so war. Der Grosse ICH BIN war absolut liebevoll und schöpferisch.
Ein weiteres Geheimnis war das Geheimnis des Gleichgewichts. Es bedeutete, dass alles Leben aus einer Vereinigung der Gegensätze besteht. ES gibt kein Leben ohne den physischen Tod, keine Freude ohne Kummer, keine Lust ohne Schmerz, kein Licht ohne Finsternis, kein Geräusch ohne Stille, kein Gutes ohne das Böse. Wahre Gesundheit ist eine Form der Ganzheit. Und die Ganzheit ist heilig. Das große Geheimnis der Kreativität bestand darin, die wilde, ungezügelte schöpferische Energie in eine Form zu bringen, die dieser Energie eine Existenzberechtigung gibt. 

Eines Tages wurde unserem zarten Kobold, der übrigens Joni hieß, noch ein weiteres Geheimnis anvertraut. Dieses Geheimnis machte ihm ein bisschen Angst. Das Geheimnis war, dass er einen Auftrag ausführen musste, bevor er sich wieder für alle Zeiten seiner schöpferischen Arbeit widmen konnte. Er musste seine Geheimnisse einem wilden Stamm von Nicht-Kobolden mitteilen. Das Leben der Kobolde war nämlich so gut und wunderbar, dass das Geheimnis dieses Wunders unbedingt mit denen geteilt werden musste, die nichts davon wussten. Das Gute will sich immer mitteilen. Jeder Kobold wurde zu einer Familie dieses wilden Stammes der Nicht-Kobolde zugeteilt, deren Mitglieder sich Snamuh (Humans – Menschen) nannten. Die Snamuh wussten nichts über die Geheimnisse. Sie vergeudeten häufig ihr Leben. Sie arbeiteten ständig und schienen sich nur dann lebendig zu fühlen, wenn sie etwas taten. Einige Kobolde nannten sie auch TUER. Sie brachten sich auch gegenseitig um und führten Kriege. Manchmal trampelten sie sich sogar bei Sport- und Musikveranstaltungen gegenseitig zu Tode. 

Joni kam am 29. Juni 1933 um 3.05 Uhr in seine Snamuh-Familie. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was ihn erwartete. Er wusste nicht, dass er seine ganze Kreativität würde einsetzen müssen, um seine Geheimnisse mitteilen zu können. Als er geboren wurde, gab ihm den Snamuh-Namen Farquhar. Seine Mutter war eine wunderschöne neunzehnjährige Prinzessin, die immer das Bedürfnis hatte, etwas zu tun.Auf ihr lastete ein seltsamer Fluch. Mitten auf der Stirn hatte sie eine Leuchtröhre. Immer wenn sie versuchte zu spielen, sich zu amüsieren oder einfach zu entspannen, leuchtete die Lampe auf und eine Stimme sagte: „Tu deine Pflicht!“ Es gab keinen Augenblick, in dem sie mal nichts tat und einfach nur lebte. Farquhars Vater war ein kleiner, aber gutaussehender König. Auch auf ihm lastete ein Fluch. Er wurde von seiner bösen Hexenmutter Harriet heimgesucht. Sie lebte auf seiner rechten Schulter. Immer wenn er einmal nur einfach sein wollte, schrie sie ihn an. Harriet befahl ihm immer etwas zu tun. 

Damit nun aber Farquhar seinen Eltern und den anderen sein Geheimnis mitteilen konnte, mussten sie ruhig sein und lange genug nichts tun, um ihn zu sehen und ihm zuhören zu können. Aber das konnten sie nicht; seine Mutter wegen der Neonleuchte und sein Vater wegen Harriet. Von dem Moment an, in dem er geboren worden war, war Farquhar ganz allein. Da er den Körper eines Snamuh besaß, hatte er auch dessen Gefühle. Und weil man ihn so allein gelassen hatte, war er wütend, zutiefst enttäuscht und verletzt. Da saß er nun, ein zarter Kobold, der die großen Geheimnisse des ICH BIN kannte, und keiner wollte ihm zuhören. Was er zu sagen hatte, war lebensspendend, aber seine Eltern waren so damit beschäftigt, ihre Pflicht zu tun, dass sie nichts von ihm lernen konnten. Sie waren so verwirrt, dass sie glaubten, sie müssten Farquhar auch beibringen, seine Pflicht zu tun. Jedesmal, wenn er etwas nicht getan hatte, von dem sie glaubten, dass esseine Pflicht gewesen wäre, bestraften sie ihn. Manchmal ignorierten sie ihn einfach, indem sie ihn in sein Zimmer sperrten. Manchmal schlugen sie ihn oder schrien ihn an. Das Schreien hasste Farquhar am meisten. Die Isolation konnte er aushalten, und die Prügel waren schnell vorüber, aber das Schreien und diese ständigen Vorhaltungen verletzten ihn so tief, dass sogar seine Koboldseele in Gefahr war. Nun kann man natürlich die Seele eines Kobolds nicht zerstören, denn sie ist ja ein Teil des Großen ICH BIN; sie kann aber so schlimm verletzt werden, dass es so aussieht, als wäre sie gar nicht mehr da. Und das geschah mit Farquhar. Um überleben zu können, gab er alle Versuche auf, seinem Vater und seiner Mutter seine Geheimnisse mitzuteilen, sondern tat ihnen zuliebe seine Pflicht. 

Seine Mutter und sein Vater waren sehr unglückliche Snamuh. (Im Grunde waren die meisten Snamuh unglücklich, es sei denn, sie kannten die Geheimnisse der Kobolde.)

Farquhars Vater wurde von Harriet so gequält, dass er seine ganze Kraft dafür einsetzte, einen Zaubertrank zu finden, der ihm alle Gefühle nahm. Aber dieser Zauber hieß nicht Kreativität. Er nahm ihm sogar seine Kreativität weg. Farquhars Vater verwandelte sich ineinen „wandelnden Toten“. Nach einer gewissen Zeit kam er nicht einmal mehr nach Hause. Farquhar Snamuhs Herz war gebrochen. Jeder Snamuh braucht nämlich sowohl die Liebe seines Vaters als auch die seiner Mutter, damit der Kobold in ihm seine Geheimnisse preisgeben kann. 

Farquhar war wie erschlagen, weil sein Vater ihn verlassen hatte. Und da der Vater auch der Mutter nicht mehr helfen konnte, blinkte die Neonröhre immer heftiger. Das hatte zur Folge, dass Farquhar immer häufiger angeschrien wurde. Als er zwölf Jahre alt war, hatte er vergessen, dass er ein Kobold war. Ein paar Jahre später lernte er den Zaubertrank kennen, mit dem sein Vater versucht hatte, Harriets Stimme zu übertönen. Mit vierzehn benütze er ihn selbst häufig. Als er dreißig war, musste man ihn in ein Snamuh-Krankenhaus einliefern. In diesem Krankenhaus hörte er eine innere Stimme, die ihn aufweckte. Und diese Stimme war die „Seins“-Stimme seiner Koboldseele. Denn ganz gleich, wie schlimm es wird,immer ruft die Koboldstimme einen Snamuh dazu auf, sein Sein zu feiern. Joni gab nicht auf, sondern versuchte immer wieder, Farquhar zu retten. Wenn Sie ein Snamuh sind und dies lesen, dann denken Sie immer daran, dass sie eine Koboldseele haben, die Sie immer an Ihr Sein erinnern will.

Als Farquhar im Krankenhaus lag, hörte er endlich Jonis Stimme. Und das war der Wendepunkt. Und der Anfang einer anderen, besseren Geschichte…

(Aus: „Das Kind in uns. Wie finde ich zu mir selbst“ von John Bradshaw)

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